Einst fragte ein Mönch seinen Meister:
»Was ist der wahre Weg, das wahre Dao?«
Der Meister antwortete:
»Koboku Ryu Gin – in kahlen Bäumen Gesang der Drachen.«
Eigentlich ist die Wendung Gesang nicht ganz richtig. 龍 Ryū ist der Drache, 龍吟 der Gesang der Drachen.
Das japanische Wort Gin im Ryu Gin – Drachengesang – bezeichnet vielerlei Geräusche vom Singen, Rezitieren, Ächzen, Stöhnen bis hin zum Brüllen und Heulen. Der Gesang im Noh-Theater, der für unsere westlichen Ohren nicht immer schön und melodisch klingt, oder das Heulen des Sturmes ist Gin – Gesang.
Der Gesang der Drachen klingt auch in den kahlen Bäumen, die uns an Vergänglichkeit und Tod erinnern. Er ist also nicht unbedingt immer ‚schön‘! Auch die Zenflöte Shakuhachi soll nicht immer ‚schön‘ klingen. Sie klagt und schreit, klingt wie der Wind oder wie das Rauschen des Wasserfalles. Sie klingt wie die Glocke von Zenmeister Fukke, der uns stets an unsere Vergänglichkeit gemahnt. Manchmal kann sie sogar melodisch schön singen.
Der Klang der großen japanischen Trommel, der Taiko ist wie das Gebrüll des Löwen oder wie der Gesang der Drachen. In den koreanischen Zentempeln wird die große Trommel, die mit Drachen bemalt ist, geschlagen, um alle Wesen wachzurufen und vom Leid zu befreien. Ihre Stimme erschüttert uns bis ins Mark und ergreift das Herz und den ganzen Körper, ja, sie bringt die Erde selbst zum Dröhnen.
In Japan gibt es kein traditionelles Matsuri – kein Fest – ohne die Taiko. Soweit ihre Stimme reicht, so weit reichen die Grenzen der Gemeinde. Sie vereinigt alle Menschen mit ihrem dröhnenden Gesang.
Gongs und Klangschalen sind schon immer in den Tempeln und Klöstern Ostasiens geschlagen worden. Sie rufen mit ihrem ätherischen Klang in ferne Welten der Stille und der Gelassenheit. Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen im Westen für diese Instrumente begeistern.
Mit einem Monochord mit einer einzigen Saite hat Pythagoras im alten Griechenland die Musiktheorie des Abendlandes begründet. Boethius hat mit dem Monochord den Mönchen des Mittelalters ihre musikalische Ausbildung vermittelt. In den Nonnenklöstern wurde das Monochord – als Trumschait – gestrichen und es klang fast wie eine Trompete – die Nonnentrompete. Das moderne Monochord ist eigentlich ein Polychord. Aber dessen viele Saiten sind im selben Ton gestimmt. Mit ihrem obertonreichen Klang bringt sie die Sphärenmusik der Planeten, die Pythagoras beschrieben hat zum Klingen.
Eine Entwicklung unserer Zeit ist die Handpan. Das Instrument hat eine feine Resonanz und man wird durch den Klang in eine höhere, fast mystische Dimension gezogen. Eine der Handpans, die in den Konzerten gespielt wird, ist in der alten japanischen Pentatonik gestimmt und passt so wunderbar zur Zen – Shakuhachi. So verbindet sich die uralte Tradition der Zenmusik mit der Gegenwart.
Wir – die Gruppe Drachengesang – haben diese Instrumente zu einem Ensemble vereinigt. Und so klingen die traditionellen, jahrhundertealten Stücke der Zenmönche nicht nur auf der Shakuhachi, sondern im Verein mit den anderen Drachenstimmen.
In den Zentempeln Japans hört man immer wieder die Rezitationen uralter Texte. Sie versetzen uns in eine meditative Stimmung. In den Konzerten rezitieren wir oft das Hannya shingyo, das Herzsutra in einer neien Weise mit Begleitung der Trommel und anderer Instrumente. Auch im Westen hat es Menschen gegeben, die den Drachengesang angestimmt haben. Denken wir nur an Hölderlin oder Rilke. Und so stimmen auch sie mit Rezitationen aus ihren Gedichten in den Drachengesang mit ein.
Eigentlich, so sagt der Zenmeister Dogen (1200 – 1251) kann man die Drachen überhaupt nicht singen hören, denn ihr Gesang gehört nicht in den Bereich der fünf Töne der japanischen Tonleiter. Der Gesang der Drachen ist das Blut des Lebens, das überall fließt. Es ist die Lebenskraft, die selbst in kahlen Bäumen sichtbar wird. Es sind die Wolken, die aufsteigen und Regen und neues Leben bringen. Es ist der Gesang des Lebens und der Freude!
Ein Mönch fragte seinen Meister:
Gibt es denn einen einzigen Menschen, der den Gesang der Drachen hören kann?
Der Meister antwortete:
Auf der ganzen Welt gibt es nicht einen einzigen Menschen, der den Gesang NICHT hören kann!
Wer mag, kann in die Rezitationen der uralten Texte, die sie auf ihren Sitzen finden mit einstimmen und so selbst Eins mit dem Drachengesang werden.
Hören wir im Konzert auf den Gesang der Drachen.
Und hören wir nicht nur die Töne, wie sie aus der Stille kommen, sondern auch und gerade die Stille, wie sie in den Tönen klingt.